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Der Reiz des Rollenspiels
Neben den so völlig andersgearteten Computer- und Videospielen haben sich Rollenspiele
als die Umwälzung des Spielemarktes in den achtziger Jahren erwiesen.
Was reizt so viele Spieler an dieser Art von Spielen?
Viel mehr als herkömmliche Gesellschaftsspiele ist ein Rollenspiel eine aktive
Freizeitbeschäftigung, bei der Phantasie, Kommunikation mit Freunden und Geselligkeit nicht zu
kurz kommen. Es macht Spaß, sich mit netten Leuten über Bücher
oder Filme zu unterhalten, die alle Beteiligten genossen haben. Um so mehr
Spaß macht es, mit Freunden eine solche Abenteuerhandlung durchzuspielen.
Unsere moderne Gesellschaft bietet glücklicherweise kaum Gelegenheit, sich in gefahrvollen
Situationen als Held zu erweisen. Dennoch existiert in vielen Menschen
ein Hang zum Abenteuer, wie der Erfolg von Abenteuerliteratur und -filmen
aller Genres beweist. Eine mögliche Ursache für diese Tendenz
ist der Wunsch, kurzzeitig aus dem täglichen Einerlei zu entfliehen.
Aus diesem Grund haben sich seit alters her Menschen um Geschichten- und
Märchenerzähler versammelt und sich in eine farbigere und aufregendere
Welt entführen lassen. Bei Rollenspielen kommen aber noch zusätzliche
Motive hinzu: Zum einen bieten sie dem Spieler die Möglichkeit, sich
einmal ganz anders zu verhalten, als es seinem normalen Wesen entspricht
und auf diese Art und Weise die eigene Persönlichkeit auszuloten.
Aus eben diesem Grund werden ernsthaftere Rollenspiele ja auch in der Psychotherapie
eingesetzt. Zu ernst nehmen sollte man die spielerischen Rollenspiele allerdings
nicht; die Lust am Schauspielern ist wesentlich und nicht der Versuch,
sich selbst besser kennen zu lernen. Vielen Spielern macht es Spaß,
Charakter und Motive ihrer Spielerfigur ohne Bezug auf die eigene Person
festzulegen und dann auch möglichst getreu diese Rolle zu spielen.
Ulrich Kiesow, einer der Autoren des Schwarzen Auges, schreibt hierzu
in der Zeitschrift Spielwelt: "Für mich geht die Faszination der Fantasy-Rollenspiele
von ihrer Offenheit aus. Sie stellen hohe Anforderungen an die kreative
Phantasie. Ein gut gemachtes Abenteuer ähnelt in vielem dem Drehbuch
für ein Theaterstück (wobei die Spieler jedoch keine ausführenden
Organe sind, da sie ja das Drehbuch ständig beeinflussen und umformen
und so erst zum Gelingen des Stückes beitragen). Gerade die Offenheit
und die Improvisation sind es, was das Rollenspiel von allen anderen Spielen
unterscheidet... Wenn ich Spielleiter bin, möchte ich in Zusammenarbeit
mit den Spielern ein spannendes Stück über die Bühne bringen.
Die Spielhandlung soll schlüssig und interessant sein, eine imaginäre
Welt soll aufgebaut und mit Leben erfüllt werden."
Hauptsächlicher Stein des Anstoßes sind bei Rollenspielen sicher Gewalt und
Blutvergießen, die im Zusammenhang mit Abenteuern auftreten. Natürlich handelt es
sich hier nur um imaginäre Gewalt, die auch keineswegs im Zentrum
von Rollenspielen stehen muß. Es gibt zwar Rollenspiele, die zu einer
Routine von "Monster erlegen und Schätze zusammenraffen" degeneriert
sind. Solche Spielergruppen sind aber die Ausnahme und laufen allein aus
Überdruß an derart stupiden Handlungsabläufen bald wieder
auseinander. Leider verleiten einige amerikanische Rollenspielregeln die
Spieler dazu, den Kampf gegen Monster und das Anhäufen von Gold als
Hauptzweck zu sehen. Dort erhalten Spielerfiguren die den Spielerfolg messenden
Erfahrungspunkte in erster Linie für im Spielverlauf überwundene
Gegner und erworbene Schätze. Moderne Rollenspiele wie MIDGARD und
Das Schwarze Auge verzichten ausdrücklich auf solche Erfolgsbewertungen
aus der Frühzeit des Rollenspiels. Wenn überhaupt der Erfolg
einer Spielerfigur bemessen wird, so werden die Punkte für erfolgreiches
Bestehen von Abenteuern und für gute Einfälle während des
Spiels vergeben. Es gibt Rollenspielabenteuer, die ganz ohne Kampfszenen auskommen. Andererseits
sind Konflikte eine der Grundlagen dramatischer Abenteuer. In einem fortlaufenden
Rollenspiel, das die ganze Bandbreite möglicher Abenteuersituationen
ausschöpfen will, wird es daher auch zu kämpferischen Auseinandersetzungen
mit Tieren, Fabelwesen oder auch mit menschlichen Kontrahenten kommen.
Dies ist insbesondere bei den Fantasy-Rollenspielen der Fall, die in einer
primitiveren Gesellschaft als der unseren spielen und die somit von ihren
historischen und mythischen Vorbildern her ohne das latente Vorhandensein
von Gewalt unglaubwürdig wären. Soweit meine Erfahrung mit weit
über hundert Rollenspielern repräsentativ ist, lassen Rollenspieler
ihre Spielerfiguren meist nur in Ausnahmefällen, z. B. zur Selbstverteidigung,
zur Waffe greifen. Intelligenteren Problemlösungsstrategien wird der
Vorzug gegeben, und einzelne Spieler, die zu chaotischerem Verhalten neigen,
werden schnell von ihrer Spielergruppe "erzogen". Rollenspiele sind daher
selbst bei sehr jungen Spielern kaum dazu geeignet, gewalttätiges
Verhalten zu fördern.
Auf der anderen Seite können Rollenspiele positive, gruppendynamisch bedingte Wirkungen
haben. Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer Spielergruppe
ist es, daß die Spielerfiguren zusammenarbeiten. Eigensinniges, uneinsichtiges
Verhalten, Egoismus oder Desinteresse eines Spielers gefährden wesentlich
den Erfolg der Spielergruppe. Die Spieler lernen, eine Aufgabe gemeinsam
anzugehen, zu kooperieren und dabei die unterschiedlichen Fähigkeiten
ihrer Spielerfiguren zu koordinieren. Dies ist ein grundlegender Unterschied
zu herkömmlichen Spielen, der wesentlich zum Erfolg und zum Reiz der
Rollenspiele beiträgt. Die Spielatmosphäre ist konkurrenzfrei,
man arbeitet zusammen an der Lösung eines Problems, und es geht nicht
darum, den Mitspieler zu besiegen. Für Spannung ist dennoch gesorgt,
denn wer schwitzt nicht Blut und Wasser, wenn es um Kopf und Kragen der
lange gehegten Lieblingsfigur geht. Bei einem Rollenspielabenteuer kann
man mit Freunden kommunizieren und auch gemeinsam lachen, denn es kann
zu zwerchfellreizenden Situationen kommen, wenn ein Spieler sich allzu
enthusiastisch in seine Rolle hineinversetzt.
Ein weiterer Reiz der Rollenspiele besteht darin, daß sie die verschiedensten
Anforderungen an die Spieler stellen. Phantasie und Kommunikationsvermögen
sind fast eine Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus braucht
man aber auch sorgfältiges Planen, schnelle Reaktion auf Unvorhergesehenes
und bei manchen Abenteuern auch kriminalistischen Scharfsinn. Gerade von
deutschen Spielern hört man oft, daß ihnen die Abenteuer am
besten gefallen, bei denen sie anhand verstreuter Hinweise ein Geheimnis
ergründen oder ein Verbrechen aufklären müssen.
Der Reiz der Rollenspiele von Jürgen E. Franke
Copyright © 1985 by Jürgen E. Franke
– Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors -
www.midgard-online.de/Uberblick/rspreiz.html
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